Endstation Blind Date

Nein, bitte nicht hier, denke ich noch, als eine Frau zu mir ins Abteil plumpst. Die Frau, in einen alten Wollmantel gehüllt, breitet sich mit ihren Jutetaschen auf beide Sitze aus. Ihre drei Hunde verkriechen sich unter die Sitze und im Fußraum zwischen uns. Ich habe gesunden Respekt vor Hunden, vielleicht sogar ein wenig Angst. Auf jeden Fall mag ich es nicht, wenn sie mir mit ihren nassen Schnauzen zu nahe kommen. Ich ziehe meine Füsse etwas zurück und der größte von den drei Hunden füllt die entstandene Lücke gleich aus und legt sich hin. Ich bin erleichtert, dass er ein Nickerchen der aktiven Erkundung seiner Umgebung vorzieht und schaue aus dem Fenster. Bäume und Häuser rauschen an mir vorbei, die Scheibe beschlägt, mir wird warm.

Die S-Bahn knattert zur nächsten Haltstelle, wo ein grosser Passagierumschlag stattfindet. Nur die Frau mit dem Wollmantel macht keine Anstalten auszusteigen. Ich überlege, ob ich mich umsetzen soll. Das könnte als unhöflich aufgefasst werden, und das möchte ich nicht. Also bleibe ich sitzen, starre weiter aus dem Fenster. Neben mich setzt sich ein junger Mann, der sogleich seinen Laptop aufklappt und etwas Korrespondenz erledigt. Nichts Grandioses. E-Mails an einen Kumpel. Es geht um ein Geburtstagsgeschenk für einen gemeinsamen Freund. Sie schwanken zwischen Klettergarten und Paint-Ball. Der Mann sieht gepflegt aus. Er trägt einen Dreitagebart, aber einen der schönen Sorte. Er hat hohe Wangenknochen und symmetrische Zähne. Seine Brille ist von der vorletzten Saison, aber sie steht ihm. Sein hellbraunes Haar ist leicht verstruwelt, und wenn er sich mit der Hand durch die Mähne fährt, bleibt ein Büschel quer abstehen. Ich könnte ihn mal anlächeln. Aber ich will nicht aufdringlich wirken.

Der grosse Hund zu meinen Füßen hat wohl schlecht geträumt und schüttelt sich kurz durch, ehe er sich wieder hinlegt. Mein Sitznachbar stöbert in einem Online-Versandhandel durch Aufnahmen von Mozarts „Le Nozze di Figaro“, dann klickt er sich durch einige Hörproben von Glucks „Iphigénie en Tauride“. Ein Kenner. Ich drehe mein Handy ein wenig in seine Richtung in der Hoffnung, ihn mit meinem Musikgeschmack zu beeindrucken. Bei mir geigt gerade Daniel Hope die vier Jahreszeiten. Ich könnte etwas Cleveres sagen, einen Tipp zu Mozart abgeben, einfach mal sanft lächeln. Aber ich trau mich nicht.

Die Hundefrau wühlt hektisch in ihren Taschen. Zwei ihrer Vierbeiner gehen in Achtungsstellung, vielleicht erhoffen sie sich ein Leckerli. Nur der große Hund regt sich nicht. Der Traummann neben mir blickt kurz auf. Ich riskiere einen seitlichen Blick, doch er ist ganz in seinen Laptop vertieft. Mittlerweile klickt er sich auf Pinterest durch Rezepte. Kochen kann er auch! Ich schmelze dahin. Male mir schon kulinarische Abenteuer mit ihm aus. Die S-Bahn hält erneut, müde Menschen steigen aus und ein. Es geht weiter.

Bei der nächsten Station muss ich aussteigen. Der Abschied naht. Ob ich mich doch noch irgendwie bemerkbar machen soll? Aber nein, es wäre einfach zu peinlich. Bestimmt hat er schon eine Freundin, und wenn nicht, hält er sicher nichts von S-Bahn-Bekanntschaften. Ich schaue ihn kurz an. Er lächelt. Aber die Freude gilt nicht mir, sondern einer Mail auf seinem Laptop. Mein Mitreisender hat eine Benachrichtigung von einer Dating-App bekommen. Es ist dieselbe Plattform, auf der ich selber nach einem Traummann suche. Meine Hände werden feucht. Er liest die Nachricht, aber antwortet nicht. Stattdessen loggt er sich dort ein und begutachtet das Profil der Absenderin. Ihr Foto lässt tief blicken. Er klickt sie weg. Ich frohlocke.

Die S-Bahn hält. Ich bleibe sitzen. Mein Sitznachbar evaluiert ein weiteres Profil, scheint aber nur mäßig begeistert zu sein. Sein Laptop zeigt eine neue Mail an. „Betreff: Lernen Sie noch heute Ihre Traumfrau kennen, Ihre Profile weisen eine Übereinstimmung von 94% auf. Schreiben Sie Arabella84 eine Nachricht!“ Arabella84. Das ist mein Profil. Mein Herz rast. Er lässt sich alles anzeigen, mein ganzes, optimiertes Profil mit einem Foto, das nichts preisgibt außer meine Mähne. Bei der Rubrik Kultur scheinen wir eine grosse Übereinstimmung zu haben. Politik sieht auch nicht übel aus. Beim Sport liegt der gemeinsame Nenner laut der einschlägigen Auswertung im Mittelfeld, bei der Kulinarik kann ich dafür wiederum punkten. Tierliebe, ein Ausreisser nach unten. Er scheint es verschmerzen zu können. Die S-Bahn fährt weiter. Die Hundefrau bereitet ich offensichtlich auf den Aufstieg vor. Nun sind alle drei Hunde wach. Der große legt seinen Kopf auf mein Knie. Ich reiße mich zusammen, um mich nicht als Hundehasserin zu outen und nicht die ganze Romanze aufs Spiel zu setzen. Zu meinem Glück bewegt sich Frauchen schon zur Tür, die anhänglichen Tiere folgen ihr. Ich atme, wenn auch nur flach.

Dank dem Aufbruch der Hundebande hat mein Traummann erstmals Notiz von mir genommen. Er lächelt und sagt: „Es geht doch nichts über so nen treuen Freund.“ Er meint die Hunde, aber ich steh auf der Leitung. Also nicke ich nur freundlich. Der Moment ist verflogen. Die S-Bahn fährt weiter. Mein Mitreisender wendet sich wieder Arabella84 zu und überfliegt die weiteren Auswertungen. Er markiert sich das Profil für die Merkliste. Ein Hoffnungsschimmer. Er liest weiter und stößt auf die Unstimmigkeiten der beiden Profile, die laut der Dating-Plattform „eine Beziehung potenziell belasten können“: „Arabella84 schläft bei offenem Fenster“.

Die S-Bahn fährt in den Endbahnhof ein. Mein Traummann löscht die Markierung, klappt seinen Laptop zu und verlässt ohne noch einmal aufzublicken den Waggon. Ich mache mir vor, dass er wenigstens gezögert hat, und bleibe als einzige in der S-Bahn sitzen. Irgendwann wird sie wieder losfahren.

(Dieser Beitrag wurde von einem Writing Prompt inspiriert)

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